© Candy Welz
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  • Redoute
  • Premiere 14.11.2021
  • Stückdauer 1 Std. 50 Min.

Die Jahre

nach Annie Ernaux

»Alle Bilder werden verschwinden.« Mit diesem Satz eröffnet die Autorin Annie Ernaux ihr autobiografisches Portrait »Les années«, das 2008 erstmals in Frankreich erschien. Was wiegt die Erinnerung und wie lange können wir sie bewahren? Und wo verbleiben die Erfahrungen, die wir gesammelt haben? Ernaux schlägt in ihrem Werk einen zeitlichen Bogen, der vor ihrer eigenen Geburt im Jahr 1940 einsetzt und über ihre Kindheit in Yvetot, Jugend und das Erwachsenwerden, den anschließenden Arbeitsalltag als Lehrerin bis in die Gegenwart einer mittlerweile zweifachen Mutter und erfolgreichen Schriftstellerin hineinreicht. Dabei schaut sie sich selbst und ihrer Generation kompromisslos über die Schulter und macht explizite Doppelbödigkeiten aus: Politisches Interesse entlarvt sich schon bald als Verdrossenheit und wird aus dem privaten Alltag verdrängt. Ernaux hat mit ihrer literarischen Stimme, die seit einigen Jahren auch in Deutschland Beachtung erfährt, weibliche Wahrnehmung und Lebensrealität im Verhältnis zu den jeweiligen politischen und sozialen Entwicklungen präzise ausformuliert. Während sich europäische Welt- und Konsumgeschichte vollziehen, nimmt die Rolle der Frau neue Gestalt an: »Zum ersten Mal stellte man sich das Leben als Marsch in Richtung Freiheit vor. Ein typisches Frauengefühl war im Begriff zu verschwinden – das einer naturgegebenen Unterlegenheit.« Wirklich restlos? Wie sehr werden wir über Geschlecht und Herkunft beurteilt? Welche Charakteristika des eigenen Milieus machen wir geltend und welche lassen wir unter den Tisch fallen? Welche Luxusartikel und Produkte halten wir für unentbehrlich, da sie unserer Identität Ausdruck verleihen? Und woran bemisst sich, ob und wie eine Frau gesellschaftliche Anerkennung erhält? Indem Ernaux das eigene Ich radikal zum Untersuchungsgegenstand macht, die biografischen Widersprüche und Brüche unsentimental nachzeichnet, lässt sie uns an keiner Stelle darüber im Ungewissen, wie viel gesellschaftliche Anpassung an neue Milieus und Lebensumstände es weiterhin bedarf, welche Möglichkeiten sich abzeichnen und warum der Wechsel zwischen sozialen Klassen ohne Selbstverleugnung dennoch nicht zu machen ist. Und so stellt sie den Leser*innen mit ihrem Lebensbericht eine universelle Chronik zum eigenen Abgleich zur Verfügung.

Jan Neumann, seit 2013 als Hausregisseur mit vielfältigen Inszenierungen in Weimar vertreten, gelingt in seinen Arbeiten ein ebenso einfühlsamer wie humorvoller Zugang: Es darf über die Tiefschläge gelacht und getrauert, Glücksmomente dürfen bezweifelt und gefeiert werden. Gemeinsam mit dem Ensemble wird er, ausgehend von Annie Ernaux‘ außergewöhnlichem Zeitdokument, eine Erzählung über Weiblichkeit und Scham, Emanzipation und sexuelle Ohnmacht, über Klassenzugehörigkeit, gesellschaftliche Grenzen und persönliche Chancen entwickeln.

Les années (Die Jahre)
Annie Ernaux
© Gallimard, 2008

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»Jan Neumann adaptiert den Stoff in einer Inszenierung, in der sich Biographie und Kulturgeschichte grandios vereinen. (…) Annie Ernaux vermied das ›ich‹ im Erzählen und wählte ein ›sie‹. Jan Neumann hat dieses »sie« weitergedacht und gemeinsam mit den fünf Schauspielerinnen auf der Bühne des Kesselhauses im Weimarer E-Werk daraus eine kollektive Geschichte erarbeitet und damit genau den Mehrwert geschaffen, den man bei Dramatisierungen von Romanstoffen gelegentlich vermisst. Diese Inszenierung (…) holt den Stoff beeindruckend in das Hier und Jetzt. Die fünf Frauen (…) und ihre Annäherung an das Thema machen aus diesem Abend ein Kulturgeschichts-Erlebnis. (…) Getrieben und zusammengehalten wird er von einem live eingespielten Soundtrack. (…) Auch dank dieser Musik ist der Duktus des Abends vorwiegend leicht, streckenweise sogar revuehaft. Was interessanterweise seine Ernsthaftigkeit stärkt, statt sie zu schwächen, weil hier eben nicht belehrt, sondern gemeinsam gelitten wird an den aus heutiger Sicht teilweise absurd wirkenden Frauenbildern der letzten sieben Jahrzehnte. (D)ieses raffiniert aus Zeitgeschichte und Persönlichem zusammengesetzte Szenen-Kaleidoskop weckt die eigenen Erinnerungen in jedem einzelnen Zuschauer. (…) Ein grandioser Abend!«
(nachtkritik.de, Matthias Schmidt)

Lesen Sie hier die ganze Rezension.

Lesen und hören Sie hier auch die Rezension von Matthias Schmidt auf MDR KULTUR.

 

»Das ist so gar kein Buch für das Thea­ter. Eigent­lich. Regis­seur Jan Neu­mann ent­deckte darin den­noch eine büh­nen­taug­li­che Struk­tur und ent­wickelte dar­aus mit fünf Schau­spie­le­rin­nen, die kaum zufäl­lig in fünf auf­ein­an­der fol­gen­den Jahr­zehn­ten gebo­ren wur­den, ein Stück für jeweils 30 Zuschauer im E-werk Wei­mar. (...) Sie fin­den (...) viele wun­der­bare Gele­gen­hei­ten, Luft zu holen und an den Text zu las­sen, gleich­sam zwi­schen seine Zei­len zu krie­chen und mit ihm zu spie­len – und vor allem auch mit­ein­an­der. So ent­fal­ten sie aus vie­len klei­nen Bruch­stücken ein großes bun­tes Tableau des Lebens zwi­schen Zuver­sicht und Ver­druss, Anspruch und Wirk­lich­keit, revo­lu­tio­närer Hal­tung und kon­ser­va­ti­ver Lebens­füh­rung, zwi­schen Auf­bruch, Aus­bruch und Zusam­men­bruch. (...) Eine starke hei­ter-melan­cho­li­sche Revue!«

(Thüringer Allgemeine, Michael Hel­bing)

Fr 17.01.2025 // 19.30 Uhr

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