26.04.2023

Meister in Weimar

Bieito, Kimmig, Wieler, Morabito, Viebrock

 

Joachim Raffs »Samson«, Nikolai Rimski-Korsakows »Der Goldene Hahn«, Kurt Weills »Der Silbersee«, Vincenzo Bellinis »I Capuleti e i Montecchi« – das Weimarer Opernpublikum erwartet in der kommenden Spielzeit eine besondere Auswahl von Musiktheaterwerken, die eher selten auf den scheinbar immer gleichen Opernspielplänen zu finden sind. Auch den größten Opernliebhaber*innen seien hier noch Entdeckungen versprochen. Im Gegensatz zu den weniger vertrauten Titeln stehen die Namen der Regieteams, die gerade wegen dieser außergewöhnlichen Werke in der kommenden Spielzeit nach Weimar kommen: Calixto Bieito, Stephan Kimmig und das Dreiergespann Jossi Wieler/Sergio Morabito/Anna Viebrock. Andrea Moses hat in der zweiten Spielzeit ihrer Operndirektion die für sie aktuell wichtigsten Regisseure des Musiktheaters und Wegbegleiter ihres Künstlerinnenlebens nach Weimar geholt sowie Stücke für sie gesucht und gefunden.

 

Dass das Dreierteam Wieler/Morabito/Viebrock sich Bellinis »I Capuleti e i Montecchi« in Weimar widmet, kommt nicht von ungefähr. Das Angebot, sich mit diesem »Romeo und Julia«-Stoff zu beschäftigen, bedeutet für sie die Fortführung einer intensiven Auseinandersetzung mit Vincenzo Bellinis Opernschaffen, die 2002 mit »Norma« an der Staatsoper Stuttgart begann und mit »La sonnambula« 2012 und »I puritani« 2016 fortgeführt wurde. Bereits seit 1983 arbeitet der vielfach national und international prämierte Schweizer Regisseur Jossi Wieler mit der deutschen Bühnen- und Kostümbildnerin Anna Viebrock kontinuierlich im Schauspiel zusammen, seit 1994 inszenieren sie gemeinsam mit dem deutsch-italienischen Musiktheaterdramaturgen Sergio Morabito auch in der Oper. Mittlerweile zeichnet das Team für insgesamt 23 Inszenierungen verantwortlich, von denen zahlreiche in Stuttgart entstanden sind; zunächst auf Einladung des damaligen Intendanten Klaus Zehelein, dann auch unter der Intendanz von Jossi Wieler selbst, der das Stuttgarter Opernhaus von 2011 bis 2018 leitete. Die letzten gemeinsamen Premieren waren Hans Werner Henzes »Das verratene Meer« an der Wiener Staatsoper, »Lohengrin« bei den Salzburger Osterfestspielen und »Die Meistersinger von Nürnberg« an der Deutschen Oper Berlin. Auch wenn Wieler und Viebrock nach wie vor im Schauspiel erfolgreich tätig sind, finden sie mit Morabito, derzeit Chefdramaturg der Wiener Staatsoper, immer wieder für Opernprojekte zusammen. Auf die Herausforderung unterschiedlichster Werke antworten sie mit der Erfindung immer neuer Theaterwelten, die mit zahlreichen Preisen und Auszeichnungen gewürdigt wurden; viermal schufen sie beispielsweise die von einer internationalen Kritikerjury ermittelte »Aufführung des Jahres« der Zeitschrift »Opernwelt«. Immer wieder überrascht die sinnliche Dichte, die singdarstellerische Durchdringung und intellektuelle Virtuosität ihrer Aufführungen. Besonders wegen des tiefenpsychologischen Ansatzes ihrer Inszenierungen wird auch diese Arbeit eine große und gewinnbringende sängerische und spielerische Herausforderung für das Weimarer Ensemble, auf die man sich freuen darf.

 

I CAPULETI E I MONTECCHI
(Die Capulets und die Montagues)
Tragische Oper in zwei Akten von Vincenzo Bellini
mit einem Text von Felice Romani
Musikalische Leitung Dominik Beykirch
Regie Jossi Wieler/Sergio Morabito
Premiere Sa 3.6.2023, Großes Haus

 

Calixto Bieito eröffnet mit der Uraufführung von Joachim Raffs »Samson« den Premierenreigen im Großen Haus. Der Katalane kam in Miranda de Ebro (Burgos) zur Welt und lebt heute in Basel. Er studierte Literatur und Kunstgeschichte, Regie und Performance. Schönbergs »Pierrot Lunaire« am Teatre Lliure war seine erste Arbeit für das Musiktheater. Mozarts »Die Entführung aus dem Serail« (2004) an der Komischen Oper Berlin begründete und befestigte schließlich seinen Ruf und Ruhm, einer der europaweit führenden Regisseure zu sein. Seit 2017 ist Calixto Bieito auch der Künstlerische Leiter des Teatro Arriaga in Bilbao. Seine inhaltlichen Interessen sind heute so vielfältig wie deren künstlerische Umsetzung. Ins Zentrum rücken immer deutlicher die Grundfragen unseres Seins und damit auch Calixto Bieitos künstlerische Entschiedenheit, sich als Partner und Anwalt zeitgenössischer Autor*innen zu verstehen. Zugleich sind es immer wieder die Hauptwerke vieler Epochen, mit denen er sich auseinandersetzt, von Monteverdis »L’incoronazione di Poppea« (Zürich) und Purcells »The Fairy Queen« (Stuttgart) über »Don Giovanni« und »Carmen« bis zu Verdis »La forza del destino« (ENO London). Deren historische »Traditionen«, echte wie falsche, spielen in seiner Arbeit keine Rolle. Es ist die Essenz der Werke, die der Regisseur zu destillieren und theatralisch zu artikulieren weiß. Jenseits des Kanons der Opernliteratur setzt sich Calixto Bieito immer häufiger mit geistlicher Musik auseinander und diese in Szene, beginnend mit Brittens »War Requiem« und Verdis »Messa da Requiem« bis zu Bachs »Johannes-Passion« oder Monteverdis »Vespro della Beata Vergine«. Als Dominik Beykirch die Uraufführung von Joachim Raffs Vertonung der biblischen Samson-Geschichte vorschlug, war für Andrea Moses klar, dass das eine Oper für Calixto Bieito ist. In einem Interview sagte er einmal: »Aus der Musik beziehe ich meine primäre Inspiration für die Inszenierung. [...] Alles kommt aus der Musik: Sie ist die Landschaft der Fantasie und die gemeinsame Basis für Dirigent und Regisseur, die daraus beide die Farben ihrer Interpretation ableiten.« Umso spannender wird es sein, Calixto Bieitos Fantasieräume zu Joachim Raffs Klangwelten zu erfahren – Fantasieräume und Klangwelten einer Oper, die seit 1857 auf ihr Publikum wartet.

 

SAMSON
Musikdrama in drei Abteilungen von Joachim Raff
Uraufführung (nach 170 Jahren)
Musikalische Leitung Dominik Beykirch
Regie Calixto Bieito
Premiere So 11.9.2022 Großes Haus

 

Stephan Kimmig ist der Regisseur, dessen Auseinandersetzung mit der Oper noch am jüngsten ist. Er studierte Schauspiel an der Neuen Münchner Schauspielschule, lebte von 1988 bis 1996 in Amsterdam und inszenierte als freier Regisseur in der niederländischen und belgischen Off-Theaterszene. Es folgten Jahre als Hausregisseur am Theater Heidelberg, am Schauspiel Stuttgart, am Thalia Theater Hamburg und am Deutschen Theater Berlin. Darüber hinaus inszenierte er u. a. am Schauspiel Frankfurt, an den Münchner Kammerspielen, am Wiener Burgtheater und am Schauspielhaus Zürich. Mehrfach wurden seine Inszenierungen zum Berliner Theatertreffen eingeladen, zweimal erhielt er den FAUST-Theaterpreis. Außerdem wurde er 2004 mit dem Wiener Nestroy-Preis in der Kategorie Beste Regie ausgezeichnet, er erhielt 2007 den Rolf-Mares-Preis und 2008 bekam er gemeinsam mit der Bühnenbildnerin Katja Haß den 3sat-Innovationspreis für eine »zukunftsweisende Leistung des deutschen Schauspiels«. 2009 gab er mit Mozarts »Don Giovanni« an der Bayerischen Staatsoper sein Operndebüt. Es folgten weitere Arbeiten im Musiktheater wie »Wahlverwandtschaften«, ein Musiktheater von Thomas Kürstner und Sebastian Vogel (Text von Armin Petras nach Motiven des gleichnamigen Romans von Johann Wolfgang von Goethe, 2018, UA, Theater Bremen), Henry Purcells »König Arthur« (2018, Theater Basel), Hans Werner Henzes Oper »Der Prinz von Homburg« (2019, Staatsoper Stuttgart), und Richard Wagners »Das Rheingold« (2021, Staatsoper Stuttgart). Aufgrund der langjährigen Beobachtung und Wertschätzung von Kimmigs stark gesellschaftspolitisch interessiertem Zugang zum Theater brachte Andrea Moses ihn mit »Der Goldene Hahn« von Nikolai Rimski-Korsakow zusammen. Niemand konnte in der Planung vorhersehen, wie hochaktuell das Stück 2022 sein würde. Doch bereits zur Zeit der Entstehung 1908 war es brisant genug, dass es der Zensur des Zarenreichs zum Opfer fiel und zu Lebzeiten Rimski-Korsakows nicht gezeigt wurde. Die märchenhafte Erzählung über den alternden, regierungsmüden Zaren Dodon, dem das eigene Wohlergehen näher als sein Volk oder das Schicksal seiner Söhne ist, inszeniert Kimmig als Geschichte eines überkommenen Herrschers, der am eigene Machtsystem scheitert.

 

DER GOLDENE HAHN
Oper in drei Akten von Nikolai Rimsky-Korsakow
Libretto von W.I. Bjelski
nach einem Märchen von Alexander Puschkin
Musikalische Leitung Andreas Wolf
Regie Stephan Kimmig
Premiere Sa 5.11.2022 Großes Haus

 

Text: Judith Drühe

Für die Sonderausgabe zur Spielzeit 2022/23 unseres Theater- und Konzertmagazins »Schauplatz«