Grußwort des Festivalleiters Michael Höppner

Seit dieser Spielzeit bin ich neu am Deutschen Nationaltheater Weimar; als Musiktheaterdramaturg, Hausregisseur und Stellvertreter der neuen Operndirektorin Andrea Moses. Ich freue mich sehr auf dieses tolle Haus, seine Mitarbeiter*innen, unser Publikum und die Stadt. Vor allem freue ich mich auf die neuen Aufgaben.

Als Regisseur, Ensembleleiter und Dramaturg beschäftige ich mich seit fast zehn Jahren mit aktuellem Musiktheater, das auch »neues« oder »zeitgenössisches« Musiktheater genannt wird. Dieses Musiktheater entsteht aus neuen Kompositionen und verknüpft Musik und Szene auf außergewöhnliche Arten und Weisen. Jenseits von Oper, Operette und Musical spielt es mit anderen Erzähl – und Darstellungsformen, verwendet andere Medien, Spiel- und Gesangstechniken, setzt andere Instrumente ein, besiedelt andere Räume und entfaltet andere Beziehungen zwischen Aufführenden und Publikum. Es ist ein Genre, das daher zumeist außerhalb von Opernhäusern entsteht und gezeigt wird. Seit über fünfzig Jahren arbeiten Komponist*innen, spezialisierte Interpret*innen, Ensembles und Kollektive in diesem Bereich; vorwiegend an freien Produktionsstätten und bei speziellen Festivals. So entwickelte sich ein Paralleluniversum von besonderen Stücken, Experimenten und Aufführungen.

In meiner neuen Position möchte ich das DNT und sein Publikum mit meiner Leidenschaft für dieses Genre und mit meiner Freude am Spiel mit neuen musiktheatralischen Formen und Inhalten anstecken. Mir scheint es an der Zeit, zeitgenössisches Musiktheater und die Institution Oper wieder stärker miteinander in Verbindung zu bringen. Mit Passion :SPIEL rufen wir daher die »Weimarer Wochenenden für aktuelles Musiktheater« ins Leben, die ab März 2022 alljährlich stattfinden sollen. Zwischen Winterende und Frühlingsanfang wird Passion :SPIEL den Spielplan erweitern und sich einem experimentellen, innovativen und in die Zukunft weisenden Musiktheater verschreiben. Im e-werk weimar wird Passion :SPIEL außergewöhnliche Hör- und Seherfahrungen und einen kreativ-explosiven Austausch zwischen Theaterensemble, freier Szene, künstlerischem Nachwuchs und der Stadt ermöglichen. Aufregende Neuentwicklungen von Stücken, Neuinszenierungen, Ur- und Erstaufführungen, Performances, Installationen, Happenings und Aktionen sowie kreative Umbauten von Werken des Opernkanons werden von Künstler*innen des DNT Weimar zusammen mit freien Akteur*innen und Ensembles verwirklicht.

Insofern derzeit alle Vorhaben im Schatten der andauernden Jahrhundertkatastrophe stehen, will ich auch hierzu ein paar Worte verlieren. Die augenblickliche Pandemie ist eine tiefe Zäsur. Die Krise setzt alle Gewissheiten aufs Spiel. Zwischen Bangen und Hoffen wälzt sie alles um. Noch sind wir mittendrin, doch schon frage ich mich: Wie sollen wir wieder beginnen? Nach dem Ende der Welt. Was sollten wir tun? In dieser Zwischenzeit. Künstlerisch. Gesellschaftlich. Menschlich. Was war, was bleibt und was kommt? Wir dürften nicht einfach so weitermachen wie bisher, denke ich einerseits. Wir sollten nicht nahtlos an etwas anschließen, das vorher schon nicht in Ordnung war, denke ich. Und erhoffe mir andererseits doch nichts sehnlicher, als dass alles wieder so wird, wie es einmal war.

Vor diesem Hintergrund würde ich mir wünschen, dass Passion :SPIEL auf diesen Appell, der von der Pandemie ausgeht, bewusst antwortet. Passion :SPIEL sollte einen Zeit-Raum zwischen Ende und Neubeginn öffnen und eine Zeitlang offenhalten. Ein Dazwischen, ein Provisorium vielleicht. Denn das Zukunftsoffene zwischen Nicht-Mehr und Noch-Nicht ist die Heimat aktuellen Musiktheaters. Aktuelles Musiktheater ist ein Genre wie gemacht für eine derartige Zwischenzeit, für Abschiede und Neuanfänge. Es ist ein Genre des Ausprobierens, des Experiments. Des skeptischen Zurückblickens und des tastenden, neugierigen, riskanten und manchmal übermütigen Vorwärtswagens. Aktuelles Musiktheater bildet ein Reservoir an Wünschen, Sehnsüchten, Hoffnungen, Träumen und Utopien.

In jedem Falle halte ich leidenschaftliches Spiel für einen geeigneten Zwischenzeitvertreib: Instrumentalspiel, Vokalspiel, Körperspiel, Spiel der Gedanken und Gefühle. Spiel ist ein Modus des Experiments. Spiel probiert Wirklichkeit aus und vergegenwärtigt das Mögliche. Aktuelles Musiktheater spielt mit Formen und Inhalten, mit gesellschaftlichen und persönlichen Entwürfen. Das Spiel ermöglicht auch das Ungewöhnliche, Außerordentliche und Unerhörte. Passion :SPIEL soll daher ein Spielplatz sein; ein Labor, eine Werkstatt, ein Experimentierfeld, eine Recherche- und Forschungsanstalt, ein Institut für Zukunft. Im Modus leidenschaftlichen Spiels entwirft aktuelles Musiktheater Zukünfte. Und der zerteilte Mensch kann sich im Spiel in seiner verlorengegangenen Totalität wiederfinden und erleben: »Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt«, schreibt Schiller in den »Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen«. Auf diesem Wege wird aus Passionsspielen, dem Spiel der Leiden, Passion :SPIEL, die Leidenschaft des Spiels.

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