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The Great Learning

THE GREAT LEARNING des englischen Komponisten und Aktivisten der Laien- und Arbeitersingbewegung Cornelius Cardew aus den Jahren 1969-1971 ist ein großformatiges Chorstück auf einen Lehrtext von Konfuzius, der sich mit der Beschaffenheit einer idealen Gemeinschaft befasst. Die Aufführung, die die gesamte Redoute bespielt, entfaltet eine klingende und singende soziale Skulptur, in der die Mitwirkenden kraft des Gesangs und im Zuge von Regelbefolgung und freier, eigenverantwortlicher Gestaltung Entstehungs- und Aushandlungsprozesse von Gemeinschaft einüben und erlernen. In Vorbereitung ihrer Inszenierung schrieb Regisseurin Margo Zālīte 2023 in Istanbul folgenden Essay:

 

Das Beben. Die Stöße. Das Schütteln. In einer halben Sekunde aus der Fassung geworfen werden. Wow. Meine ersten Erfahrungen mit Erdbeben. Wissen Sie, ich komme aus Lettland, wo es nur politische Seismologie gab. Dort wurde man schweigend aus dem Gleichgewicht gerüttelt, wenn man auch nur im Ansatz vom System abwich. Ein soziales Experiment. Gescheitertes.

 

Die vorsichtigen Vorzeichen

Diese wenigen Erdbeben in Istanbul in diesen krisendurchdrungenen Zeiten erinnern mich an meine Kindheit in der Sowjetunion. Dort haben wir einiges gelernt. Das meiste erscheint vielleicht nutzlos (vor allem, wenn man im turbo-kapitalistischen Schnellzug sitzt), aber was soll man machen. Das Lernen ist ein unaufhörlicher Prozess. Es gab dieses Experiment, bei dem ein Menschenkind mit einem Affenkind zusammengebracht wurde, und der Mensch wurde zum Affen (das Experiment wurde abgebrochen), weil der Lernfähigere von seiner Umgebung lernt. Nun, wir, die Spät-Sowjetianer, haben vom Beben und Zusammenbruch gelernt. Wir, die Kinder des Endkommunismus. Diese leisen Vorzeichen der Erwartung weben nicht nur die Antizipation des bevorstehenden Erdbebens in Istanbul, sondern auch die schmerzhaften und dennoch faszinierenden Erfahrungen meiner Generation, die in den 80ern, im Ausklang der Sowjetunion, ihre Wurzeln schlug. Inmitten der seismographischen Schwingungen meiner Vergangenheit werde ich zu einem unmittelbaren Zeugen einer Ära des Umbruchs, in der nahezu alles – nicht nur wirtschaftlich, sondern auch in sozialer und kultureller Hinsicht – ins Wanken gerät.

 

Die fragmentierte Melodie meiner Geschichte

Meine Seelen-Seismographie zeichnet nicht nur die politischen Erschütterungen auf, sondern auch die persönlichen Erdstöße. Als Kind war ich Zeuge des Kollapses meiner Familie, meiner Schulsysteme, von Lehrern, die Sinnlosigkeit mit erfundenen Inhalten füllten, von der Medizin, die dem Mittelalter ähnelte, von all den Vorstellungssystemen, die vor mir in sich zusammenfielen. Meine Eltern, geprägt von den Schatten des Zweiten Weltkriegs und der sowjetischen Ära, trugen ihre eigenen Lasten. Die Großeltern, deren Seelen durch Krieg und Exil in Sibirien verwundet waren, hinterließen mir ein Erbe aus endgültig gerüttelten Herzen und vernähte Lippen. Eltern, Großeltern – sie fielen wie unrenovierte Häuser Istanbuls. Sie zerteilten sich wie die halb reparierten Zähne meiner Generation. In meiner Familie hatten wir alles: Alkoholismus, Krebs, Mägen, die unten rausgeflossen sind, Steine im Körper in allen Organen, verrückte Großmütter, die am Fenster mit gepackten Koffern standen und auf die Flucht für den Rest ihres Lebens warteten, schweigende Großväter (falls es sie noch gab), die sich in Badewannen vor den Enkelkindern aufhängten oder auf dem Sofa wie abgenutze Kissen hockten, falls sie etwas mehr Glück hatten. Das Erdbeben der jungen Seele, das ein junger, wacher Mensch da erfahren muss, ist das größte Lernen meines Lebens. The Great Learning. Nach dem würde jeder denken: Was kann mir das Leben noch bieten? Und dann kommt das echte Beben. Da bebt der Boden in Istanbul unter den Füßen. Und da denkt man: Kann man mich doch noch anders schütteln. Bebe! Bewege mich! Bitte schüttele mich neu zusammen!

Regisseurin Margo Zālīte

 

Die Crescendi der Veränderung

In dieser Phase des Umbruchs, als die Wende kam und ich in die Teenagerjahre eintrat, stand ich vor einer Welt, die keine Rücksicht auf mein Unwissen vom Kapitalismus nahm. Ich war nicht nur Zeuge des Zusammenbruchs der Sowjetunion, sondern auch des Scheiterns zweier vorangegangener Generationen. Meine Eltern, als Kinder des Systems, das ausschließlich dem Regime diente, waren verloren in einer neuen Welt. Der Kapitalismus wartete nicht darauf, dass ich mich anpasste – er stürzte mich unvorbereitet in eine unbekannte Realität, ohne das notwendige Rüstzeug, um in dieser neuen Welt zu navigieren.

 

Die Seele in Spiegelbildern

Meine Seelen-Seismographie entschlüsselt nicht nur die politischen Beben, sondern auch die persönlichen Narben. In den Spiegelbildern meiner Erinnerungen erkenne ich Unsicherheiten, Verluste und die Suche nach Identität. Ähnlich dem Versuch, mit einer Landkarte aus den 80ern durch eine moderne Großstadt zu navigieren – voller Unsicherheiten und Hindernisse, aber dennoch mit einer gewissen Nostalgie.

Das Echo der Erkenntnis
Und dann kommt die Stille nach dem Beben. Sie ist eine alte Bekannte. In der Stille, die dem Beben folgt, erkenne ich das Echo meiner eigenen Erkenntnisse. Meine Generation, geprägt von schmerzhaften Transformationen, trägt die Bürde der Vergangenheit und die Verantwortung für die Zukunft. Meine Seelen-Seismographie hat nicht nur die Brüche aufgezeichnet, sondern auch den Weg zu einer neuen Identität gewiesen. Ähnlich dem Moment, wenn ich endlich verstehe, wie die Fernbedienung funktioniert – Erkenntnis und Macht, aber auch eine gewisse Verlorenheit in der Zukunft.

 

Verlassen der epischen Erkundung

Ich fahre weg aus Istanbul. Als völlig anderer Mensch. Ich bin erschüttert. Neuzusammengeschüttert. Meine Zellen, meine Neuronen bilden neue Verbindungen. Ich hoffe, sie ersetzen mir meine alten. Ich würde so gerne zurück in den unerschütterlichen Zustand reingebebt. Ich komme zurück, Istanbul. Ich glaube, du schaffst das. Ich bin überzeugt, du kannst mich beben, schütteln, durchstoßen, bis ich in einer halben Sekunde in meinem Kern zurückkehre. In dem Kern, wo es keine Brüche mehr gibt, nur den unerschütterlichen Nucleus meiner selbst.  

 

Musikalische Leitung Jens Petereit
Chor- und Ensembleleitung: Kerstin Behnke (Chor der HfM FRANZ LISZT Weimar), Benedikt Noll (Universitätschor Erfurt), Dirk Herwig (Trommelgruppe »Die Kongas«)
Regie Margo Zālīte
Kostüme und Bühne Josa Marx 

Mit Opernchor des DNT Weimar, Chor der HfM FRANZ LISZT Weimar, Philharmonischer Chor Weimar, Chor der Uni Erfurt, Trommelgruppe Die Kongas aus den Werkststätten der Diakonie Saalfeld, Emanuel Winter (Orgel), u.a.

 

31.5.2024 & 8.6.2024, 19.30 Uhr, Redoute
Eintritt frei

 

Workshops fürs Mitsingen bei der Aufführung 

31.5. & 8.6.2024 18 Uhr, Redoute
(Anmeldungen jeweils bis 30.5. und 7.6. unter: musiktheatervermittlung@nationaltheater-weimar.de )