Interview mit dem Team
❓Angelika, für das diesjährige Jugendclubstück hast du dich für Ernst Tollers »Der entfesselte Wotan« von 1923 entschieden. Welche Aspekte des Stücks findest du spannend?
❗Interessant finde ich, dass einige Formulierungen in Bezug auf die Themen Populismus, Unzufriedenheit mit politischen Systemen oder in Bezug auf unerfüllte Träume und Sehnsüchte der Figuren so ganz heutig daherkommen, obwohl der Text als eine satirische Warnung vor dem Erstarken rechtsextremer Strömungen vor fast 100 Jahren geschrieben wurde. Dass dieser alte Text beim Lesen immer wieder so gegenwärtig wirkt, finde ich auch in Anbetracht dessen, was 100 Jahre nach dieser Warnung von Toller in Deutschland geschah, erschreckend und umso wichtiger und anregender ist es, sich mit diesem Stoff heute gemeinsam mit jungen Menschen zu beschäftigen.
❓Welche Fragen leiten sich für dich daraus ins Heute ab?
❗Stehen wir an ähnlicher Stelle des Wunsches nach Umbruch, Aufbruch und radikaler Veränderung wie damals? Vielleicht nicht aufgrund von Konjunktur oder Inflation, aber aufgrund von gesellschaftlicher Spaltung, Sorge vor der Zukunft, Desorientierung oder aufgrund von wachsender Technisierung, Klimawandel, unberechenbaren Ereignissen wie dieser Pandemie jetzt?
Welche Gedanken, Sorgen, Ideen oder Wünsche haben junge Menschen zum Thema Führung und gesellschaftlichem Miteinander heute? Und: Kann die Arbeitsweise mit dem Stoff im Digitalen, mit den Kommunikationsformen und Medien der Übersetzung für die Übertragung dieser Geschichte ins Heute sogar nützlich sein?
❓Wie kam es zu der Entscheidung, die Geschlechterrollen zu tauschen?
❗Die einzigen zwei weiblichen Rollen im Stück sind Mariechen, Wotans Frau, und Gräfin Gallig, seine neue Geliebte (die wir stark gekürzt haben). Sie sind beide – aus unserer Perspektive – dem Protagonisten gegenüber sehr anbiedernd und einseitig geschrieben. Herr Stephan Zänker vom Weimarer Republik e.V., mit dem wir kooperieren, sagte mir in einem Gespräch, dass die links gewandten Autoren und politischen männlichen Kräfte der Weimarer Republik, wie Ernst Toller, nicht unbedingt für Emanzipation der Frauen standen bzw. sich damit noch nicht befasst haben. Das sei Ernst Toller, für mich als 100 Jahre später lebende Frau, verziehen (lacht), aber wir wollten diese Rollen, die auf uns – und auch im Abgleich zu den stärkeren Männerrollen – so einseitig wirken, den Spieler*innen nicht zumuten.
Hinzu kam, dass wir lediglich vier Spieler*innen (m/w) haben, jedoch mehrere Rollen zu besetzen hatten. So kam es schnell zu dieser Entscheidung gegen die Rollenklischees von Mann und Frau in der Besetzung zu gehen, um alle Spieler*innen möglichst gleichermaßen im Rahmen der Stückvorlage zu stärken.
❓Ihr habt beschlossen, die Inszenierung als Online-Format im Zoom und Telegramchat, stattfinden zu lassen. Warum diese beiden Plattformen? Welche Funktion haben sie jeweils?
❗Ich habe mir im Vorfeld viele Online-Inszenierungen angeschaut. Dabei haben mich weniger die Mitschnitte von klassischen Bühnenaufführungen interessiert, sondern Formate, die die sozialen Medien live nutzen und auch zum Teil Partizipation oder Aktivität der Zuschauer*innen anders ansprechen als es bspw. ein Livestream tut. Und dieses Experimentierfeld interessiert mich sehr, vor allem jetzt mit den einschränkenden Pandemiebedingungen fürs Theaterspiel. Wir wollten etwas Neues ausprobieren. Zoom ist momentan fast die gängigste, attraktivste Begegnungs- und Kommunikationsplattform, die aus unserer Erfahrung am wenigsten anfällig für Störungen ist und dann haben wir uns entschieden dort die Figuren sich begegnen zu lassen. Die Telegram-App nutzen wir parallel als Chatmedium, um der Inszenierung noch eine eigene inhaltliche Note zu geben. Gleichzeitig sind diese Messenger auch nicht unumstritten, da über diese Kanäle auch Fehlinformationen oder Verschwörungsmythen verbreitet werden. Diese Themen der Manipulation oder auch der Machtmanifestierung, die sich über die sozialen Medien verbreiten, passen auch sehr gut zu den Inhalten des Stücks.
❓Und mit welchen Herausforderungen seid ihr im Unterschied zu einer Bühneninszenierung konfrontiert?
❗Das Theater ist solche Produktionsweisen nicht gewohnt, es gibt keine gängigen Kontrollerfahrungen für reibungslose technische Probenabläufe. Diese müssen erst erprobt, gefunden und etabliert werden. Da fehlt auch das entsprechende Personal. Unsere Videoabteilung ist sehr klein. Den Support ermöglichen wir mit einer zusätzlichen freischaffenden Video- und Media Art-Künstlerin, Kate Ledina, die in Absprache mit unserer Videoabteilung mit der Open Broadcast Software einen Live-Videoschnitt macht, sowie mit den Kräften der EDV-Abteilung des Hauses. Die Kolleg*innen sind alle ganz toll, hilfsbereit und interessiert und versuchen dieses Experiment möglich zu machen. Und ich habe ein tolles Team, das zusammenhält!
Und auch das Spiel ist im Zoom ein ganz anderes als auf der Bühne. Da kann man mehr mit dem Körper arbeiten und hat ein anderes Miteinander. Für den Zoom müssen wir Bilder finden, die in diesem begrenzten Medium trotzdem eine Stärke und eine Phantasie entfalten können. Und dann ist da noch das Thema des Mindestabstands der Darsteller*innen untereinander. Dieser Kontakt läuft im Spiel nur über Bildschirme. Das kennen wir zwar aus unserem Alltag in Pandemiezeiten. Aber das lässt sich nicht so einfach als Theaterspiel umsetzen. Als Theaterpädagogin arbeite ich normalerweise sehr körperlich, mit Aufwärmübungen, Blickkontakt, Gruppenimprovisationen, Spannungszuständen, um den nicht ausgebildeten Darsteller*innen eine Art Schauspieltraining als Basis für alles Weitere zu ermöglichen. Für unsere Arbeit an »Wotan« musste eine gute Balance und Arbeitsweise gefunden werden zwischen diesen digitalen Medien, Kontakt der Spieler*innen zueinander und der Körperarbeit.
❓Caroline, du spielst den Wotan, also die Titelfigur des Stücks. Wie würdest du diese Figur beschreiben? Mit wem haben wir es da zu tun?
❗Wotan ist ein Hochstapler, der es mit seiner egozentrischen Art schafft, die Menschen für seine antisemitischen Ideen zu überzeugen. »Einem Wotan« folgen Menschen, die der Hoffnung auf eine Veränderung nacheifern und sich dadurch naiv an eine Idee einer neuen Gesellschaftsordnung klammern, was politisch nicht aktueller sein könnte.
❓Was interessiert dich als Spielerin an der Figur?
❗Besonders an Wotan ist, dass er in seiner eigenen Welt zu leben scheint, die er Stück für Stück mit einer ungeheuren Selbstverständlichkeit in die Realität umsetzen will, oder zumindest eine Menge Reden schwingt, in denen er ohne Rücksicht auf Verluste das Blaue vom Himmel verspricht. Die Entwicklung der Idee, die anfängt in Wotan zu brodeln und was diese mit ihm macht, finde ich sehr interessant zu beobachten und umzusetzen.
❓Sophie, du spielst Herrn Schleim. Eine Figur, die Profit aus dem Vorhaben Wotans zieht. Und ihn in dem Moment fallen lässt, in dem er scheitert. Ein klassischer Opportunist. Was macht die Figur für dich aus?
❗Schleim ist ein Opportunist, ja, er handelt mit Kalkül statt Gefühl, er durchschaut als einziger den Bluff Wotans und führt diesen selbstbewusst an Wotans Seite sogar weiter bis in die Illegalität. Er weiß, wie den prestigeträchtigen und einflussreichen Menschen, deren Ressourcen sich Wotan und Schleim in ihrem Schaffen bedienen möchten, zu begegnen ist, wie es sich am besten schmeicheln, Empathie versprühen, Wotan als den ersehnten Retter darstellen und den Erwartungen der Massen vermeintlich gerecht werden lässt. Deshalb haben wir Schleim auch zu Beginn ganz stark als Wotans persönlichen Coach gesehen, als seinen Optimierer. Was aber passiert, oder als Grundhaltung von Anfang an für Schleim mitschwingt, ist die Bereitschaft, moralische und auch eigene Prinzipien und Ideale des Einflusses, der Macht und des Geldes wegen hintanzustellen und den Gewinn von Macht ganz bewusst nicht für eine bessere Welt, ein besseres Europa ohne Antisemitismus und sozioökonomische Ungleichheiten einzusetzen. Für uns war es dabei immer wieder eine Herausforderung und wirklich schwierig, die Nuancen dieses Charakters herauszuarbeiten und vor allem gemäß Tollers Vorstellungen und Empfinden darzustellen. Die jüdische Identität, mit der Toller Schleim schuf – und das im doppeldeutigen Sinne, sowohl hinsichtlich Schleims als auch Tollers Jüdisch-Sein – brachte uns, mich an die Grenzen dessen, was wir aus unserer Perspektive spielen können und wollen, ohne uns antisemitische Stereotype und Diskriminierungen reproduzieren und bedienen zu sehen.
❓Und wie seid ihr bzw. wie du bist du mit diesem Thema im Rahmen eurer Proben umgegangen?
❗Schleims Antisemitismus speist sich möglicherweise aus oder geht einher mit einem Selbsthass, einem Leugnen seiner Identität, seines jüdischen Vaters, einer scheinbaren inneren Zerrissenheit und dem Überspielen dessen. Geschieht das aus Selbstschutz? Müssen wir darin nicht allem voran die problematische – und zum Teil diskriminierende – Struktur unserer Gesellschaft und der Gesellschaft vor hundert Jahren hinterfragen?
Wir können uns der Sprache und Ideologie, die Toller für die Figuren wählte und uns somit mit seiner Komödie an die Hand gab, nicht einfach entziehen, so furchtbar und menschenverachtend sie ist, was es uns unbehaglich macht, sie selbst in unserem Schauspiel als Rolle zu verkörpern. Es bleibt wichtig, darin durchaus auch im Sinne expressionistischen Theaters den Ausdruck, die Visualisierung, das Erfahrbarmachen des Inneren, der gefühlten und erlebten Realitäten zu sehen und Toller in seinen Ahnungen, Bedenken und seiner Kritik ernst zu nehmen, wahrzunehmen und hierdurch in selbstreflektierte Gespräche zu treten und dem kritischen Begegnen und Aufarbeiten von Antisemitismus im Früher und Heute gerecht zu werden.
❓Marvin, du spielst Marie, die Ehefrau von Wotan. Wie würdest du ihre Rolle in der Geschichte beschreiben? Verfolgt Marie eigene Ziele oder ist sie lediglich Unterstützerin ihres Mannes?
❗Die Marie in Ernst Tollers Theaterstück ist eine sehr schwache Rolle. Sie scheint nur zu existieren, um ihren Mann bei seinen Vorhaben zu unterstützen und für ihn da zu sein. In ihrer dargestellten Naivität und ihrem Gottvertrauen finde ich Parallelen zu dem Gretchen aus »Faust«. Mit dem Rollentausch und im Sinne aktueller Debatten zum Thema Gleichstellung hat mich besonders interessiert, wie sich die Rolle des Mariechens stärken lässt, und wie sich der Text auf andere Art und Weise spielen lässt. Unsere jetzige Marie ist meiner Ansicht nach eine Frau, die sich ihrer Position sehr bewusst ist: Sie weiß um den Größenwahn ihres Mannes und dass dieser in der Vergangenheit wenig erfolgreich war. Trotz dessen verbindet sie etwas mit Wotan; sei es eine Liebe, Bewunderung oder auch das Gefühl, dass sie Verantwortung für ihn trägt.
Das Stück endet mit dem erneuten Scheitern Wotans: An diesem Punkt finde ich es besonders spannend, dass Marie es schafft, sich von ihm zu lösen und ihren eigenen Träumen nachzujagen. Wie es dazu kommen konnte und welche Charakterentwicklung Marie in der Zwischenzeit durchlebt haben muss, finde ich äußerst spannend und herausfordernd für mich als Spieler.
❓Anas, du machst nun bereits zum 3. Mal bei einem Spielclub des DNT mit. Was reizt dich am Theaterspielen? Welche deiner Rollen im »Wotan« gefällt dir am besten und warum?
❗Ich spiele Theater weil es mir Spaß macht, ich dadurch Deutsch lernen kann und weil ich gerne mit anderen Menschen zusammen bin. Zu meinen Rollen: Ich mag alle meine Rollen. Sie alle verstärken Wotans Ideen. Gräfin Gallig beispielsweise kommt zu Wotan, um sich ihm anzuschließen. Meine Figuren haben keine eigene Geschichte oder erzählen jedenfalls nicht so viel von sich. Da gibt es also keinen Punkt, der mich als Spieler mit den Figuren verbindet.
❓Was findest du speziell bei diesem Theaterprojekt spannend?
❗Die Inszenierung vor dem Computer, das wir vor »Zoom« spielen und Telegram benutzen. Das ist alles neu für mich. Das ist für mich wie eine neue Reise. Allgemein was Neues zu machen finde ich interessant und man lernt was dazu.
❓Torsten, du als Ausstatter des Spielclubs hast ja auch eigentlich mit einem Live-Event geplant und eine Bühne entworfen. Nun musstest auch du komplett umdenken. Was für Räume und Bilder erleben wir im Zoom? Und wo lagen hier für dich die Herausforderungen?
❗Wir sind bei der Verortung des Stücks einen langen Weg gegangen. Unsere Gedanken begannen mit einem Keller, waren in einem Wohnzimmer in das sich eine riesige Luftmaschine hineinschiebt und kamen zu einer gespenstischen Zeltplatz-Situation in einem surrealen Wald mit rollbaren Bäumen. Bis dahin war es ein relativ normaler Prozess, gemäß einer klassischen Bühneninszenierung. Mit der Pandemie stellte sich aber die Frage, ob wir unser Theaterstück fit für eine Covid-spezifische Aufführung machen wollen. Wir hätten einfach weitermachen können und die klassische Premiere ohne Publikum abfilmen und streamen können. Aber die Frage war: Warum sollte man ein Theaterstück abfilmen? Um es wie einen Film immer wieder abspielen zu können? Würde man dann nicht besser einen Film machen? Ich denke, Theater ist kein Leierkasten, sondern ein sehr direktes, körperliches Medium. Es verortet sich in der Welt, die uns umgibt. Ein Theaterstück lebt von seinem performativen Charakter und ich denke, dieser muss live sein. Es geht um einen Moment, der für alle Menschen, vor und hinter der Bühnenbegrenzung, gleich ist. Ich bin glücklich, dass wir nun unseren »Entfesselten Wotan« live und in Echtzeit von der Studiobühne ins World Wide Web streamen können. Viele Menschen sitzen momentan in ihrem Alltag leider im Homeoffice und schlagen sich mit digitalen Kommunikationsmitteln herum. Deswegen erschien die Verwendung dieser Medientechnologien nur folgerichtig. Damit haben wir einen Weg beschritten, welcher das Bühnengeschehen nicht nur abbildet, sondern erlebbar machen soll. Vor allem aber, haben wir das mit dieser Entscheidung dorthin geholt, wo gesellschaftliches Leben stattfindet und die Diskurse notgedrungen ausgelagert sind.
Wir haben also das Setting entsprechend neu gedacht. Ich bin in diesem Punkt Angelika sehr dankbar für die Geduld und den langen Atem in diesem langwierigen Prozess! Die Ausstattung dieser Bühne ist dadurch viel kleinteiliger und detaillierter geworden. Manche Requisiten werden fast wie in einem Objekttheater genutzt und bedurften besonderer Aufmerksamkeit, da sie sehr nahe betrachtet werden können. Gleichzeitig ist es natürlich ein riesiger Aufwand, die vielen Requisiten für diesen kleinen Bildausschnitt und manchmal nur für einen kurzen Augenblick bereit zu halten! Die Figur des Wotan ist in unserem Stück Inhaber eines Hutladens und dieses Geschäft musste als solche*r ausgestattet werden. Dafür haben uns Janet Paumier Gainza (Modistin) und Frank Schmidt (Rüstmeister) Mengen an Kopfbedeckungen, Hüten und Kronen aus dem (teilweise) historischen Fundus zur Verfügung gestellt. (Ich glaube Wotans Pickelhaube ist ein Original aus der Kaiserzeit!) Diese ganzen Kleinteile werden von Sandra Altendorf, der Requisiteurin zusammengehalten, was für uns eine große Hilfe ist. Ich weiß nicht, ob eine solche Produktion unter »normalen« Umständen in dieser Form möglich gewesen wäre. Auch die technischen Herausforderungen waren viel größer als gedacht und konnten nur Dank tatkräftiger Unterstützung verschiedenster Menschen am Theater gelöst werden. Obwohl es für das Theater sicherlich keine einfache Zeit war, hat es mich gefreut eine große Hilfsbereitschaft zu erleben. Vielen Dank.